Brief von Axel Corti

Caro mio Leporello, Danke für Ihre herzliche, so faszinierende, wunderbar begabte Heiterkeit. Leporello kommt in meinem Brief nur deswegen nicht vor, weil wir eh wissen, was für ein charmanter Teufel das ist!
Wenn man mich lässt, möchte ich gerne wieder Oper mit Manfred Hemm machen. Danke!
Ihr Axel Corti

…wenn die grossen Kriege ermattet sind, wenn die Zeit umbricht, wenn der Besitz wertlos würde, wenn bloß noch der Hunger bleibt – und den verarmten Edelleuten ihre „Ehre“, die sie frisch halten wollen – dann wird der Mut kleiner. Und manchmal bäumt sich die Gier nach Leben schamlos auf.

„…wie weit kann das gehen? Wohin kann das treiben? Wo führt mich das hin?“
So sind die Fragen, die Don Giovanni sich stellt. Brennend, fordernd, neu-gierig! Der kannsein Leben, seine Existenz nur noch fühlen, wenn er den Glanz der Antwort im Auge einer Frau sieht. Da spürt er sein Blut in sich kreisen, diese Augenblicke der ersten Annäherung, diese Betroffenheit, die er (noch) auslösen kann, diese immer kürzer, immer zerschlissener gewordenen Zeiträume, in denen sich alles in ihm zu bündeln vermag, um sein einziges Ziel zu erreichen: geliebt zu werden – d a s macht den Don Giovanni aus.

Immer ist die Trauer dabei; die steigt schnell auf und begleitet seine sehnsüchtigen Jagden. Die Trauer dessen, der weiß, dass er Liebe nicht weiterleben kann, dass er die Liebe nicht festzuhalten, nicht zu entwickeln vermag. Er kann sie erwecken – und darin verströmt er seine Kraft – aber sie bleibt nicht bei ihm. Auch diese Liebe, auch die nächste wird jäh verfallen, er weiß es. Er spürt schon das Ende, wenn die Liebe sich eben erst aufzubauen beginnt. (Ja – die Liebe, nich bloß das, was die Moralisten das „Begehren“ nennen!) Daher die verzweifelte Trauer dieses Mannes.

„Was einer nicht haben kann, das versucht er zu sein“ – so ettikettiert die Psychoanalyse. Giovanni will der sein, der die Liebe erwecken und wieder erwecken kann. Und wieder…! Er muß immer eine „neue“ Liebe finden – weil die Liebe ihn so schnell verlässt. Er wandert aus, verlässt die Gegenden der Vernunft, der Konsequenz und der Moral – verzweifelt sucht er Asyl in der Liebe. Will da bleiben und sich hineinwühlen in die Existenz der Anderen. Flieht aber auch, versucht, die wie eine Seuche und eine Ansteckung zu fliehen, die ihm Asyl gewährt haben. Was ist das für ein Makel, den dieser Unglückliche prompt an denen entdeckt, die ihn endlich erhört haben?!

Er will die Reibung spüren, mit der das strömende Blut die Venen durchschießt. Sonst glaubt er sich tot. So mag sie denn kommen und wieder kommen – seine Sehnsucht nach der Sehnsucht. So wie die wartenden, geduldigen, Ausschau haltenden Frauen Hoppers in die amerikanischen Nachmittage und einfallenden Abende starren und warten und witer warten – so unruhig macht diesen Mann seine Sehnsucht. Und so abhängig und so verzweifelt. Manchmal geradezu lächerlich.
In immer kürzer werdenden Abständen riskiert der sich selbst. Riskiert auch alle Verachtung, allen Hass und allen Spott, den die Vernünftigen bereithalten. Der will ein Künstler sein durch die Liebe, einer, der neue Wirklichkeiten entstehen lässt, einer der „alles in alles verwandeln kann, eine Stadt in einen Adler, einen Mann in einen Löwen, eine Schmeichlerin in eine Sonne…“ So schreibt das Emanuele Tesauro – und du kannst es nicht besser beschreiben.

Sie sind alle betroffen von Giovanni in dieser Oper. (Die müsste von Shakespeare sein, wäre sie nicht von Mozart!) Anna – die bloß noch erschrecken kann über das, was offenbar in ihr geradezu gewartet hat – und von dem sie nie wusste, dass es das überhaupt gibt: so viel Leidenschaft, so viel Unbedingtheit. Nun bricht das auf in ihr – und wer so viel Unruhe bringt in ihr behütetes Leben – den will sie dingfest machen! Mit Liebe und mit Hass und Rache und wieder Liebe. Was war das für eine Ungeduld, was war das für ein rücksichtsloser Fehler, den Giovanni da begangen hat, dass Anna wieder zu sich kommt? Ist das die Ungeduld dessen, der plöztlich bloß noch sich meint?

Zerlina – hingerissen von Giovannis Unbedingtheit: der kommt aus einer anderen Welt – und ist so ganz da, wie kein Masetto und überhaupt kein Mann je „da“ war. Und will gleich den höchsten Preis zahlen, den es in der Welt einer Zerlina gibt: Heirat.Sofort.Jetzt.Hier.
Da hat Mozart in seinem Aufstand wider die bloße Vernunft mindestens die Kraft und die Unverfrorenheit Shakespeares. Bei dem wirbt Richard an die Frau, die er will – am Sarg ihres Mannes, den er eben ermorden ließ. Giovanni dringt in das Leben Zerlinas ein in der Stunde der Hochzeit – und er hätte Erfolg…käme nicht Elvira!
Diese Frau weiß um die Gefahr, die mit Giovanni einhergeht. Ja, sie kennt Eifersucht, kennt auch Rache, Hass, Verzweiflung. Sie weiß, wie unglücklich die ist, die von Giovanni verlassen wurde. Und trotzdem ist da immer noch Liebe ohne Bedingung in Elvira. Sie will nichts ausreizen. Sie meint nicht bloß sich – sie meint den anderen. Und will sein Unglück aufhalten, erntet noch am Ende Giovannis wütend-sinnlosen Spott. Und gibt Liebe zurück.

Dann bricht Giovanni um. Dann zerspringt sein Herz.

Und die übrig gebliebenen, die betroffen „Lebendigen“ jubeln ihren Dank und ihre Moral in den Himmel. Wie Kinder im Wald laut und lauter rufen und pfeifen – so jubeln sie. Um die Angst zu vertreiben. Die Überlebenden spüren das Entsetzen in sich – das die Liebe sie gebeutelt hat – und dass sie derlei noch „aushalten“ konnten. Sie leben allemal weiter. Atmen durch. Spüren ihre Wunden – und loben den Schorf, der schon wächst. Mit der entseztlichen Kraft des überlebens.

„Im Plan der Natur ist Glück nicht vorgesehen“ (S. Freud)

Manfred Hemm